2020-04-21 12:00
Ein Kommentar von MdEP Petra Kammerevert, S&D-Gruppenkoordinatorin im Ausschuss für Kultur und Bildung im Europäischen Parlament, zum Europäischen Bildungsraum.
Unsere Gesellschaft steht vor großen Herausforderungen, die weder am nächsten Garten- noch am nächsten Grenzzaun haltmachen. Dies zeigt sich nicht nur in der derzeitigen Krise rund um COVID-19, welche die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in ihrer Härte zwar nicht in gleichem Maße trifft, sich aber dennoch auf das öffentliche Leben in ganz Europa drastisch auswirkt. Dass gewisse Herausforderungen eine europäische Antwort bedürfen, zeigt sich ebenfalls in vielerlei anderer Hinsicht.Der Bildungssektor ist hierfür nicht erst seit Corona ein frappierendes Beispiel.
Überall in der Union lernen unsere Kinder in mehr oder weniger maroden und schlecht ausgestatteten Schulen. In allen Mitgliedstaaten wird gleichermaßen händeringend nach Fachkräften gesucht, die unsere Bildungssysteme schlichtweg nicht mehr hervorbringen. Die Digitalisierung aller unserer Lebensbereiche erfordert den Erwerb neuer und anderer Kenntnisse und Fähigkeiten. In den Schulcurricula wird dem bisher in den wenigsten Mitgliedstaaten wirklich Beachtung geschenkt. Für viele Unionsbürger ist es zudem mittlerweile zur Normalität geworden, in der ganzen EU zu leben, zu studieren und zu arbeiten. Dass die grenzüberschreitende Anerkennung von Bildungsabschlüssen dieser Tatsache oftmals im Wege steht, ist mehr als bedauerlich.
Bildungspolitische Herausforderungen machen nicht mehr an Landesgrenzen halt. Deshalb ergibt es nur Sinn, der Bildungspolitik auf EU-Ebene mehr Beachtung zu schenken.
Die EU-Kommission hat dies glücklicherweise erkannt und vor zwei Jahren das Vorhaben formuliert, bis 2025 einen sogenannten europäischen Bildungsraum zu schaffen. Bildung soll als Motor für Beschäftigung, Wachstum und soziale Gerechtigkeit genutzt werden. Die Kommission möchte in diesem Sinn unter anderem darauf hinwirken, dass es eine Garantie auf qualitativ hochwertige frühkindliche Erziehung gibt, dass jeder Abiturient mindestens zwei Fremdsprachen gut beherrscht, dass Bildungs- und Berufsabschlüsse automatisch über Ländergrenzen hinweg anerkannt werden, es eine bessere Zusammenarbeit bei der Ausarbeitung von Lehrplänen gibt sowie lebenslanges Lernen und damit Fort- und Weiterbildungen stärker gefördert werden.
Ziele formulieren ist das eine, deren Umsetzung das andere. Denn seit der Ankündigung ist leider nicht viel passiert. Grundvoraussetzung für die Umsetzung vieler der von der Kommission formulierten Pläne sind vor allen Dingen Investitionen in Bildung durch die Mitgliedstaaten. Bei allem Respekt vor der Tatsache, dass Bildungspolitik nach wie vor vor allem Sache der Mitgliedsstaaten ist: Was spräche dagegen, dass sich diese darauf verständigen, 10 Prozent ihres jeweiligen Brutto-Inlandsprodukts in die Bildung und Ausbildung junger Menschen zu investieren (der EU-Durchschnitt liegt im Moment bei 5 Prozent)?
Neben notwendigen Investitionen in die Bildungsinfrastruktur ist es notwendig, den Fokus verstärkt auf die Aus- und Fortbildung von Lehreinnen und Lehrern zu legen. Deren Rolle hat die EU-Kommission in der Debatte um den europäischen Bildungsraum bisher allerdings wenig Beachtung geschenkt.
Qualitativ hochwertige Bildung ist nur mit ausreichendem und gut ausgebildetem Lehrpersonal zu erreichen – in der Stadt und auf dem Land, aber auch fächerspezifisch. Ein Mangel an Lehrpersonal, egal ob in Fächern wie Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik oder Kunst und Musik, welcher sich in vielen Mitgliedsstaaten verstärkt manifestiert, ist nicht hinnehmbar – weder für die Schülerinnen und Schüler, noch für die Lehrerinnen und Lehrer, welche sich mit Überstunden und Ihnen fachuntypischen Unterrichtseinheiten konfrontiert sehen. Der Lehrerberuf sollte daher dringend attraktiver gestaltet werden, um Lehrermangel zu bekämpfen. Die Rede ist vor allem von besseren Arbeitsbedingungen und besserer Entlohnung. Lehrerinnen und Lehrern verdienen darüber hinaus aber auch mehr soziale Anerkennung – insbesondere von Seiten der Eltern. Ich hoffe, dass wir alle aufgrund der Schulschließungen wegen COVID-19 merken, welch wichtige Rolle das Lehrpersonal in unserem Alltag spielt.
Zwar ist es unabdingbar, den Lehrerberuf attraktiver zu machen, aber das allein reicht nicht. Lehrerinnen und Lehrer müssen sowohl in ihrer Ausbildung als auch im Rahmen von Fortbildungen auf neue soziale Herausforderungen wie beispielsweise die Zunahme von multikulturellen Klassen und inklusivem Unterricht vorbereitet werden. Daneben müssen Schulen in zusätzliches qualifiziertes Personal wie Integrationshelfer und Schulpsychologen investieren, um die Lehrkräfte zu entlasten.
Auch die Digitalisierung verlangt unseren Lehrerinnen und Lehrern viel ab. Die diesbezüglichen Erwartungen an die Lehrkräfte sowohl seitens der Politik als auch seitens der Eltern sind enorm. So sollen sie unsere Kinder über die Risiken und Chancen des Internets aufklären sowie die Möglichkeiten, die der digitale Wandel dem Bildungssystem eröffnet, zum Vorteil unserer Kinder nutzen und digitale Lernmethoden in den Unterricht integrieren. In Zeiten von Corona sollen sie gleich ihren gesamten Unterricht ins Internet verlagern, in den meisten Fällen ohne dass die Schulen über die dafür notwendige Infrastruktur verfügen, geschweige denn, dass sich die Betroffenen im Vorhinein mit einer solchen Art des Unterrichtens vertraut machen konnten.
Sowohl die Sensibilisierung von Lehrkräften für das Thema als auch die Verwendung und richtige Einbindung digitaler Lernmedien im Schulalltag bleiben hinter den Erwartungen zurück. Wir benötigen daher Konzepte, die Lehrenden Medienkompetenz vermitteln und ihnen Orientierung geben, wie sie unter ihren Schülerinnen und Schülern einen kritischen Umgang mit Medien fördern können.
Der zunehmende Fokus auf digitale Bildung darf meines Erachtens aber nicht zu Lasten der sozialen Beziehung zwischen Lehrkräften und Lernenden gehen. Sie trägt immens zur persönlichen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler bei. Sozialkompetenzen werden in Zukunft sicherlich genauso von Bedeutung sein wie digitale Fertigkeiten. Online-Klassenräume und ausschließlich individualisiertes Lernen über Tablet-Computer stellen keine langfristige Alternative dar.
Im Hinblick auf das Meistern der aktuellen bildungspolitischen Herausforderungen steigen Verantwortung und Anforderungen an das Lehrpersonal also zunehmend – nicht nur in Deutschland, nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Die EU-Kommission sollte deshalb unbedingt konkretisieren, inwiefern sie Lehrerinnen und Lehrer besser unterstützen will. Mit Spannung erwarten wir im Europäischen Parlament daher die für den Herbst angekündigte Mitteilung der Kommission zum Europäischen Bildungsraum, in der Hoffnung auf die dringend notwendigen Konkretisierungen und Umsetzungsschritte. Denn Fakt ist: in politischen Zeitrechnungen ist 2025 bereits morgen und ohne die Lehrerinnen und Lehrer werden wir unsere Zielsetzungen nicht erreichen können – ohne sie ist kein europäischer Bildungsraum zu machen!